PresseMahnmal macht Zuschauer zu Mittätern
— Israel Nachrichten / Rheinische Post
Von Ralf Schreiner
Dinslaken. Wer Unrecht duldet, wird mitschuldig. Der unbeteiligte Zuschauer am Rande ist immer auch Mitwisser. Und Mitwisser sind Mittäter. So war auch die Bevölkerung Dinslakens mitverantwortlich für das, was am 10. November 1938 in ihrer Stadt geschah. Eine Horde uniformierter Nationalsozialisten überfiel an diesem Tag das jüdische Waisenhaus an der Neustraße. 46 Menschen, darunter 32 Kinder im Alter von sechs bis 16 Jahren, wurden ins Freie gejagt. Die Kleineren pferchten Hitlers Schergen auf einen Leiterwagen. Vier größere Jungen mußten den Karren dann durch das damalige Stadtzentrum ziehen. Menschen wurden wie Vieh abtransportiert. Und die Bevölkerung sah tatenlos zu.
Trauer und Scham
Der Scham und die Trauer über die unsäglichen Greuel, die Juden auch in Dinslaken erleiden mußten, sind noch immer groß, die Erinnerung an die bleckende Fratze des Faschismus noch immer wach. Sie muß es bleiben. Dazu beitragen soll ein Mahnmal, das der Hünxer Künstler Alfred Grimm entworfen hat. Die mehrteilige Bronzeplastik zeigt einen Leiterkarren, der – bewacht von einer Figur – eine Mauer durchbricht. Die Kosten für die 100.000 Mark teure Skulptur wollen sich der evangelische Kirchenkreis und die katholische Kirche mit der Stadt Dinslaken teilen. Als Standort ist der Bereich zwischen dem Dinslakener Rathaus und dem Kreisverkehr Friedrich-Ebert-Straße im Gespräch.
Der Bezug zum eigentlichen historischen Vorgang ist Alfred Grimm besonders wichtig. Das Mahnmal soll weder symbolisch-sinnbildlichen noch zeichenhaft-verweisenden Charakter haben. „Es soll sinnlich erlebt werden können“, erklärte der Künstler bei der Vorstellung des Modells. Deshalb erscheinen die Kinder, die auf diesem Karren zur Schau gestellt wurden nicht. An ihrer Stelle setzt Grimm Kartons, Behälter mit Schuhen, Fischen, Runkelrüben, Knochen, Gebissen, Handtaschen und Jacken. Gegenstände, die auf das spätere Schicksal der Juden in Deutschland und Europa hindeuten, gleichzeitig aber auch an die Verfolgung der Zigeuner, Homosexueller, Künstler, Bibelforscher, Wissenschaftler und anderer Menschen durch die Nationalsozialisten. Damit zielt das Mahnmal weit über die Ereignisse des 10. November 1938 hinaus. Es klagt auch die Untaten an, die nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ an Menschen begangen wurden und täglich wieder neu geschehen können. Der Leiterkarren durchbricht eine Mauer. Auf ihr sollen in Hebräisch die Namen der betroffenen jüdischen Kinder und Opfer der „Reichskristallnacht“ erscheinen.
Dabei macht Grimm den Betrachter zum Mittäter. Er bezieht ihn in das Ensemble ein, um es vollständig und damit lebendig zu machen. Da ist beispielsweise das Absperrgitter vor dem Leiterkarren. Durch den Winkel im Gitter blicken die Betrachter voneinander abgewandt als Außenstehende auf die in Bronze gegossene Szene. Wie früher, so auch heute. Wechselt man einige Schritte nach links, gerät man aus der Rolle des Nur-Zuschauers in die Rolle des aktiven Täters. Die seitlich vom Karren stehende, bedrohlich wirkende Gestalt ist eine Negativfigur. Sie hat keine Körpermaße, sondern wird durch das positive Umfeld des Blocks bestimmt. Der Betrachter blickt durch die Figur hindurch direkt auf den Leiterkarren.
Denkanstöße
Der Blickwinkel allein beunruhigt, liefert Denkanstöße. Diese Beunruhigung wird noch gesteigert durch die Bespielbarkeit der Plastik. Alfred Grimm hat bei dem Leiterwagen bewußt auf scharfe Kanten, Ecken und spitze Winkel verzichtet. Der Grund: Kinder sollen auf der Plastik klettern und herumtoben können. Sie sollen das Mahnmal beleben, indem sie ein Teil davon werden. Eine Aufgabe, die eine starre Bronzefigur niemals hätte erfüllen können.
Das Mahnmal hat viele Väter. An der Ausarbeitung der Idee bis zum Entwurf wirkten der Ausschuß „Juden und Christen“, die evangelische und die katholische Kirche in Dinslaken, Ratsmitglieder und Vertreter der Fraktionen sowie eine Reihe sachkundiger Bürger mit. Um den Zuschlag für die Ausführung der Plastik hatten sich insgesamt vier Künstler beworben. Daß die Entscheidung für Alfred Grimm ausfiel, lag unter anderem daran, daß sein Entwurf „der mit Abstand konkreteste war“ wie Superintendent Ulrich Bendokat bei der Vorstellung des Modells erklärte. Für Finanzierung des Mahnmals liegen 50.000 Mark bereits auf dem Tisch. 30.000 Mark hat der Kirchenkreis per Synodalbeschluß bewilligt. Ebenfalls „so gut wie sicher“ seien 20.000 Mark, mit denen sich die katholische Kirche an den Kosten beteiligen will, so Dechant Bernhard Kösters. Ein kleines Fragezeichen steht nur noch hinter den 50.000 Mark, mit der sich die Stadt an dem Projekt beteiligen will. Das Geld soll im Juni über den Nachtragshaushalt bewilligt werden. Dies bedarf allerdings noch der Zustimmung des Rates.