PresseMaiskörner für die Reise in eine andere Welt
— Rheinische Post
Von Manfred Bade
Die Kirche „Unsere Arche“ mit der verschrumpelten Maus im Fenster entwickelt sich zum Wallfahrtsort. Vor allem Kinder pilgern in Scharen in das evangelische Gotteshaus in Hünxe-Bruckhausen. In ein durchsichtiges Kästchen gebettet prangt der tote Nager auf klarem Glas; für die lange Reise in und durch eine andere Welt liegen neben ihm goldgelbe Maiskörner. Auch der Gemeinde gibt das Objektkirchenfenster des Beuys-Schülers Alfred Grimm einiges zu knabbern. Verabeitet sind darin neben dem Tier nämlich – um nur einiges zu benennen: Flachmänner, Fixerbesteck, Zahnputzbecher mit dazugehöriger Bürste, Kleiderbügel, Autoscheibenwischer, Medikamente, Pistole, fotografierte und als Siebdruck aufgepreßte sterbende Kinder, Fernsehbildschirm, Zeitungen, Werkzeuge, Tennisschläger, Kreuze, Ketten, Schachfiguren und ein Vogelkäfig.
„Dinge des täglichen Lebens halt“, merkt der Künstler an und liest laut den ebenfalls integrierten Vers, Korinther 13: „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, so dass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib verbrennen, und hätte die Liebe nicht, so wäre mir’s nicht nütze.“
Halber Zahnputzbecher
Der halbe Zahnputzbecher haftet an einem Spiegel. So wird er ganz. „Türkei bombadiert Kurdenstellungen“, „Es ist Krieg“, „Fünf Jahre nach der Reaktorkatastrophe immer mehr Todesfälle im verseuchten Gebiet“ lauten die Überschriften, die dem Betrachter aus einem Fernsehbildschirm entgegenschlagen. Wegen der sterbenden Kinder hatte Grimm einen Aufstand befürchtet. Sie sind deshalb so angebracht, daß sie nur von wenigen Plätzen aus wahrgenommen werden können. „Wer das nicht sehen will, braucht es auch nicht.“
Das Kunstwerk, an dem Alfred Grimm ein gutes Jahr lang intensiv gearbeitet hat, ist ein „demokratisches Kirchenfenster“. Bevor er in seinem Atelier den Entwurf in Originalgröße anfertigte, der dann von der Kevelaerer Firma Hein Derix in mühevoller Kleinarbeit auf die zahlreichen in Blei eingefaßten „Scherben“ übertragen wurde, hat der Künstler die Gemeindemitglieder gefragt: „Was würdest Du gerne aus deinem Bereich darin untergebracht sehen?“
Nicht ohne Genugtuung erzählt der Kunsterzieher von jener Frau, die nach einem Gottesdienst froh feststellte: „Wenn ich hier bin, dann fühle ich mich zu Hause.“ Was der Kirche denn besseres passieren könne als eine wechselseitige Durchdringung mit der Welt, fragt er. „Die Kinder kapieren das sofort.“ Einige Erwachsene dagegen hätten, nachdem im Zuge umfangreicher Restaurierungsarbeiten die Entscheidung zugunsten des in Europa wohl einzigartigen Objekt-Fensters gefallen sei, gedroht, dem Gottesdienst von nun an fernzubleiben. „Inzwischen kommen sie aber wieder“, sagt Gemeindepfarrer Gerhard Pulla mit einem Augenzwinkern. Einige neue Schäfchen gebe es auch.
„Unsere Arche“
Scheint die Sonne in „Unsere Arche“, wirft sie das Muster des Fensters, das eine von einem Regenbogen und einem Gewitter überhangene Landschaft mit Ackerbau, Industrie und Straßenverkehr zum Motiv hat, in seiner ganzen Farbenpracht auf den kühlen Steinfußboden. Auch Grimm ist sicher, mit seiner Arbeit unter kunsthistorischen Gesichtspunkten auf festem Boden zu stehen. „Die Künstler haben doch schon immer Dinge ihrer jeweiligen Zeit in ihre Werke aufgenommen“, sagt er. Schließlich seien sie Beschreiber und Gestalter ihrer Gegenwart. Sein mit Scheiben aus Arztpraxen, Terrassentüren und Toilettenräumen bestücktes Kirchenfenster stehe daher der Blasphemie ebenso fern wie der berühmte Isenheimer Altar, in dessen Mittelteil die Madonna mit einem Nachttopf versehen sei. „Man kann ja nicht historisch glauben. Entweder glaube ich – oder nicht.“